Eines der faszinierendsten Phänomene in der Bretagne ist das Wirken der Gezeiten. Der Wechsel von Ebbe und Flut bestimmt das Bild der Küstenlandschaft so eindrucksvoll wie an nur wenigen Orten sonst in Europa. Das Auf und Ab der Gezeiten in der Bretagne sorgt für viel Abwechslung und echte Überraschungen. Je nach dem, zu welchem Zeitpunkt man an einen Strand oder in einen Küstenort kommt, entdeckt man unterschiedliche Möglichkeiten und Perspektiven. So sind zum Beispiel Gezeiteninseln wie die Île Callot vor Carantec nur bei Tiefstand des Meeres zu Fuß erreichbar.
Die Austernbänke entlang der Küste liegen zur Hälfte des Tages im Ozean und zeigen sich nur, wenn der Atlantik in Richtung Horizont fließt. Ist die Flut bei Vollmond oder Neumond besonders hoch, verschluckt das Wasser an einem beliebten Strand manchen Sprungturm, der bei Ebbe meterweit in die Höhe ragt.
Wie funktionieren die Gezeiten?
Ob in der Bretagne oder anderswo: Ursache für die Gezeiten ist das Wechselspiel der Anziehungs- und Fliehkräfte zwischen Erde, Sonne und Mond. Durch diese Kräfte verschieben sich die Wassermassen auf unserem Planeten zweimal pro Tag und sorgen so für Tiefstände bzw. Hochstände des Meeres.
Dass die Gezeiten an manchen Meeresufern deutlicher zutage treten als an anderen liegt vor allem an der Geographie der Küste. An der Nordküste der Bretagne, in Finistère und Côtes d’Armor, wirken die Gezeiten besonders stark. Das hat vor allem mit der natürlichen Barriere zu tun, die der Ärmelkanal bildet. Hier staut sich das Wasser, was zu den extremen Schwankungen führt, etwa vor Saint-Malo oder vor dem Mont Saint-Michel.
Die Gezeiten sind berechenbar unberechenbar. Das Wasser ist nicht an jedem Tag zur gleichen Stunde auf dem gleichen Niveau, der Zyklus verschiebt sich täglich um etwa 50 Minuten. Und selbst an zwei benachbarten Orten unterscheidet sich der Stand des Meeres schon geringfügig. Einen allgemeinen Gezeitenkalender für die gesamte Bretagne kann es daher nicht geben, für jeden Ort wird die Ankunft von Ebbe und Flut gesondert berechnet.
Wer sich informieren möchten kann zum Beispiel die aktuellste Ausgabe des „Le Telegramme“ zu Rate ziehen oder sich eine App installieren. Für Mobiltelefone mit dem Betriebssystem Android sind „Gezeiten Gratis“, „Tide Prediction“, „My Tide Times“ oder „Tides Near Me“ zuverlässige Gezeiten-Apps zum kostenlosen Download. „Tides Near Me“ gibt es gratis auch für das iPhone. Die Apps „Tide Graph“ oder „TideTrac“ muss der Apple-Fan bei iTunes bezahlen.
Eine Wanderung bei Ebbe
Steht das Meer hoch, brandet es an vielen Abschnitten malerisch gegen die Gesteinsformationen am Ufer. Hat sich das Wasser aber zurückgezogen, zeigt sich für die paar Stunden des „marée basse“ eine vielfältige Flora und Fauna. Für Interessierte werden an manchen Orten geführte Erkundungstouren angeboten. Ohne gute Französischkenntnisse steht der Teilnehmer bei solchen „Wattwanderungen“ aber zumeist auf verlorenem Posten. Da bleibt für die Wildentschlossenen nur die Erkundung auf eigene Faust, was neben dem gesparten Beitrag für den Rundgang einen anderen großen Vorzug hat.
Bei einem selbstgeführten Ausflug in die Klippen oder über den offenliegenden Grund des Meeres ist man meist ungestört. Und was gibt es beim „pêche à pied“ nicht alles zu sehen! Unterschiedliche Flechten, Algen, Muscheln und Schnecken, kleine Fische und Krabben. Besonders interessant sind die natürlichen Becken zwischen den Felsen, in denen das bei einsetzender Ebbe zurückflutende Wasser kleine Seen bildet. Solche Stellen sind wie ein natürliches Aquarium, die das Leben im Meer in einem faszinierenden Detailausschnitt zeigen.
Eine Wanderung in den freiliegenden Abschnitten ist nur an wenigen Stellen ausdrücklich verboten. Vorsicht ist aber bei einer Wanderung vor der Küste dennoch immer geboten. Auf glitschige und kippelige Steine, permanente Strömungen und das an manchen Stellen mit hoher Geschwindigkeit zurückkehrende Meer muss man sich einstellen. Festes Schuhwerk empfiehlt sich daher in jedem Fall. Letztlich muss sich jeder selbst einschätzen, welchen Herausforderungen man sich mit der eigenen körperlichen Verfassung stellen möchte.
Das Wichtigste bei aller Entdeckungslust ist der Respekt vor dem Lebensraum Meer. Keinen Müll zu hinterlassen, versteht sich von selbst. Aber auch die Tiere und Pflanzen möglichst ungestört zu belassen und sich auf das reine Beobachten zu beschränken ist ein wichtiger Beitrag zur Bewahrung der Schönheit und Vielfalt der bretonischen Küste.
Foto: Comité Régional du Tourisme de Bretagne | © Emannuel Berthier
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