In einer Region wie der Bretagne, wo es regnet, nieselt, nebelt und stürmt, wo die Gezeiten die Linien zwischen Meer und Land täglich mehrmals verschieben – kurz, in einer Region, in der die Elemente in- und durcheinander fließen, sollte es niemanden verwundern, wenn auch in den Geschichten der Menschen die Grenzen verschwimmen. In den uralten Sagen, Legenden und Mythen der Bretagne lässt es sich noch heute schaurig-schön eintauchen in Geschichten zwischen Diesseits und Jenseits, Oberwelt und Unterwelt, Ozean und Erde.
Die Stadt Ys
Völker am Meer haben ein Faible für versinkende Städte: Vineta in der Ostsee, Rungholt in der Nordsee oder Atlantis im Mittelmeer sind bekannte Städte, denen Reichtum und Hochmut zum Verhängnis wurden. Die Bretonen erschufen rund um die geheimnisvolle Stadt Ys ihre Legende. Ys war im 6. Jahrhundert die Hauptstadt der Cornouaille, regiert von König Gradlon Meur (dem Großen), den es mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich gegeben haben soll. Der Sage zufolge lag die Stadt in der Bucht von Douarnenez oder in der Baie des Trépassés. Die Einwohner der Stadt schützten Ys mit Deichen und Schleusen, zu denen nur der König einen Schlüssel besaß.
Das Unglück nahm seinen Lauf, als sich Dahut, die Tochter des Königs, mit einem schönen jungen Mann einließ, der in Wahrheit niemand anderes als der Leibhaftige selbst war. Als Beweis ihrer Liebe verlangte er den goldenen Schlüssel. Dahut stahl ihrem schlafenden Vater den Schlüssel und es kam wie es kommen musste: kurz nach dem Diebstahl brachen die Fluten in die Stadt. Gradlon konnte sich und seine Tochter auf einem Pferd retten.
Doch die Fluten drohten schließlich auch das Pferd und seine Reiter zu verschlingen als eine himmlische Stimme ertönte, die dem König befahl seine Tochter ins Mer zu werfen, um sich selbst zu retten. Gradlon gab nach und die Flut zog sich zurück. Die Stadt Ys aber bereits in den Wellen verschwunden. Unwiederbringlich? Nein! Die Sage geht, dass Ys bei Sonnenaufgang als ein mahnendes Beispiel aus dem Meer auftaucht. An klaren und windstillen Tagen sollen die Fischer die Glocken der im Meer versunkenen Stadt hören.
Die Artussage
König Arthur, der Zauberer Merlin, die Feen Morgane und Viviane – sie alle sind Figuren der Artussage mit Bezug zur Bretagne. Die Mehrzahl der bekanntesten Sagen um den edlen, starken und gerechten Führer in einer unsicheren Zeit ist zwar auf den Britischen Inseln verortet, etwa die um das Schwert Excalibur, die Turniere der Ritter der Tafelrunde oder seine dramatische Verbindung mit Guinevere. Abenteuer des Artus spielen aber auf dem europäischen Festland. Beispielsweise bestimmte Begebenheiten um die Suche nach dem Heiligen Gral, der Sieg gegen den Riesen von Mont Saint-Michel oder eben ausgewählte Sagen zu den Nebencharakteren in der Bretagne.
Dass die Bretagne eine wichtige Rolle in der Artussage spielt, hat einen nachvollziehbaren Grund. Die Legende um den mächtigen mittelalterlichen König ist keltischen Ursprungs und entspringt einem Mix aus Sagen der Inselbewohner, die im frühen Mittelalter vor kriegerischen Germanenstämmen in die Bretagne flohen und Bretonen, die im 11. Jahrhundert auf die Britischen Inseln übersiedelten.
Legenden der Monts d’Arrée
Wer die Monts d’Arrée selbst erlebt hat, wird nicht verwundert sein, dass die geheimnisvollen, nebligen Berge Schauplatz vieler Legenden sind. Bretonen früherer Jahrhunderte galt die Landschaft als Übergang zwischen den Welten und Heimat unheimlicher Gestalten. Im Vergleich zu den Charakteren der Artus-Sage aus dem (fast benachbarten) Wald von Brocéliande sind die Figuren der Sagenwelt der Monts d’Arrée durchweg düster.
Yeun Elez
Das Gebiet Yeun Elez, in dem heute der Stausee Réservoir de Saint-Michel liegt, ist eine riesige Senke innerhalb der Monts d’Arrée. Über der sumpfigen Landschaft staute sich oft der Nebel. Die Schreie von Rohrdommeln, das Verschwinden von Menschen in den Sümpfen und der Qualm gelegentlicher Torffeuer regten die Phantasie der Bretonen zusätzlich an. Da war es nur einleuchtend, den Eingang zur Unterwelt im Herz des Sumpfes zu verorten: Yodig, das Höllentor, ist etwa in den von Anatole Le Braz gesammelten bretonischen Märchen und Legenden, eine blubbernde, morastige Pfütze in der Mitte von Yeun Elez.
Auf dem Sumpfland fühlen sich den Überlieferungen zufolge die Korrigan besonders wohl. In der Bretagne sind die Korrigan zwergähnliche Kobolde mit spitzen Ohren, die nicht immer beste Absichten hegen. An Allerheiligen kommen sie aus ihren Erdlöchern und tanzen auf den Sümpfen der Monts d’Arrée.
Ankou
Yeun Elez war auch der Rückzugsort für eines der unheimlichsten Wesen der Bretagne: dem Ankou. Am ehesten vergleichbar ist der Ankou mit dem Gevatter Tod der deutschsprachigen Märchen. Wer den Ankou sieht, ist dem Tode geweiht. Das Skelett mit Umhang und Sense erscheint nicht nur den Sterbenden, sondern fährt sie nach ihrem Ableben auf einem quietschenden Karren in die Welt der Toten.
In der Bretagne sorgt der Ankou zudem dafür, dass die Ruhe der Verstorbenen nicht gestört wird. Er geht auf Friedhöfen um und vertreibt Eindringlinge. Die Vorstellung des Ankou ist keltischen Ursprungs, Darstellungen der Gestalten fanden später eingang in Sakralbauten. Heute erkennt man Figuren in Kapellen, Kalvarienbergen und Beinhäusern der Bretagne, etwa in Brasparts, Ploudiry, Landivisiau und Noyal-Pontivy.
Lavandière de nuit
Den Tod kann neben dem Ankou auch die Lavandière de nuit ankündigen, die „Waschfrau der Nacht“. Die ganz in einer weißen bretonischen Tracht gekleidete Dame wäscht einsam an einem Gewässer schmutziges Tuch. Kommt ein Passant vorbei, verrichtet sie weiter schweigend ihren durch Fluch oder Sünde auferlegten Dienst.
In den Volksmärchen der Monts d’Arrée und anderer Gegenden der Bretagne hat die Waschfrau zu Lebzeiten eine schwere Verfehlung begangen, etwa ihr Kind ungetauft begraben oder ihren Mann in einem schmutzigen Leichentuch bestattet. So furchteinflößend wie ihre stumme Beschäftigung ist ihr von Schmerz gezeichnetes Gesicht, gleichzeitig wird den Nachtwäscherinnen große Stärke und Beweglichkeit zugesprochen.
Buch: Die schönsten bretonischen Sagen
Jean-Luc Bannalec, bekannt als Schöpfer von Kommissar Dupin und Tilman Spreckelsen, Autor und Redakteur bei der FAZ, beide Kenner und Liebhaber der Region, haben die schönsten und eindrucksvollsten Erzählungen im Band „Die schönsten bretonischen Sagen“ (Verlag Kiepenheuer&Witsch) zusammengetragen. Auf den 240 Seiten des Bandes reitet Merlin durch den Wald von Brocéliande, die Stadt Ys versinkt, die weiße Frau wandelt über das Moor, das Geisterschiff Bag-noz treibt sein Unwesen und viel mehr Geheimnisvolles passiert. Es gibt in diesem lesenswerten Buch einiges zu entdecken – für Dupin- und Bretagne-Fans gleichermaßen.
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Fotos: Comité Régional du Tourisme de Bretagne | © Yanick Le Gal, © Emmanuel Berthier, © Bruno Torrubia, © Loic Kersuzan